Kehrwieder am Sonntag: Dieses Haus ist besetzt, ohne Pause bis jetzt

21.07.2018 Kehrwieder Seite 1

HILDESHEIM . Berlin, Hamburg, Göttingen, Stuttgart, München und jetzt auch Hildesheim – Transparente überdecken den abblätternden Putz an der Fassade des Bleistifthauses. Das Gebäude ist besetzt. „Freiräume Hildesheim“, wie sich der lose Verbund diverser Gruppen aus dem linken Spektrum nennt, will mit der Aktion eine Diskus sion über Leerstand sowie den Stellenwert der freien Kulturszene in der Stadt anstoßen. Der Eigentümer ist wenig begeistert die Universität Hildesheim als derzeitiger Mieter hält sich bedeckt. „Symbolisch“ sollte die Besetzung sein. Nach ausbleibenden Reaktionen stehen die Besetzer jetzt da, wie nicht bestellt, aber auch nicht rausgetragen. Damit aus Aktivismus kein Aktionismus wird, haben sich die jungen Leute entschieden, die Besetzung auf unbestimmte Zeit fortzuführen. 31 Jahre nach der Sülte-Besetzung ist unklar, welche Auswirkungen die Aktion hat.
» SEITE 3

24.07.2018 Kehrwieder Seite 3

Junge Hildesheimer und Hildesheimerinnen wollen das Bleistifthaus am Marienfriedhof zum soziokulturellen Zentrum machen
Häuserkampf

Von Björn Stöckemann
HILDESHEIM . „Mir macht das keinen Spaß.“ Jonglierkünstler, Gitarrenmusik, Seifenblasen. Das „Antifaschistische Sommerfest“ ist vorbei. Die Antifaschisten sind geblieben. Aber eben nicht aus Spaß, sondern aus Notwendigkeit, wie eine der Personen erklärt. „Besetzt!“, verkünden bunte Lettern am Bleistifthaus. Das Gebäude zwischen der ehemaligen Bahnhofsschule und dem neugebauten Jobcenter an der Kaiserstraße ist in der Hand von „Freiräume Hildesheim“. Die offene Gruppe aus Studierenden und Kulturschaffenden, sozial Engagierten und politisch Aktiven hat die Besetzung vergangenen Dienstag, 17. Juli, öffentlich gemacht. 16.21 Uhr landet die E-Mail in den Postfächern der Redaktionen. Spaß macht es der und macht die Gruppe nicht. Sie wollen mit der Aktion auf fehlende Räume für die freie Kulturszene in Hildesheim aufmerksam machen. Zu wenig finanzielle Mittel und fehlende Unterstützung von Seiten der Stadtverwaltung kritisiert die Gruppe in ihrem ersten Schreiben. „Die Stadt Hildesheim stellt seit Jahren zu wenig Geld für die freie Kulturszene zur Verfügung, bewirbt sich allerdings für den Titel Kulturhauptstadt 2025.“ Der Vorwurf ist weder neu, noch aus der Luft gegriffen. In der freien Szene gelten die Versicherungen aus dem Rathaus, dass im
Bewerbungsprozess zur Kulturhauptstadt Europas auch die nicht an Institutionen gebundenen Gruppen aus Theater, Musik oder bildender Kunst bedacht und eingebunden werden, als Lippenbekenntnisse. Der Stachel aus dem Jubiläumsjahr sitzt tief: Die Stadt feierte 1200-jähriges Bestehen mit prestigeträchtigen Großveranstaltungen, in den Folgejahren waren dann die Fördermittel überschaubar. „Freiräume Hildesheim“ fordert von der Stadt „offene, selbstverwaltete und unkommerzielle Räume“, sowohl für kulturelle Angebote, als auch für Wissensaustausch, Begegnungen, Jugendarbeit. Die Kulturfabrik Löseke (selbst aus der Besetzung des damaligen SülteGeländes vor 31 Jahren entstanden) oder das ehemalige Mehrgenerationenhaus an der Steingrube erfüllen diese Kriterien nach Meinung der Besetzerinnen und Besetzer nicht. „Viele“ Gruppen würde, so die Darstellung von „Freiräume Hildesheim“, keine Arbeitsräume finden. Bands, Beratungsstellen, Jugendtreffs. Gleichzeitig nehme der Leerstand im Stadtgebiet zu. Kaum eine Woche vergeht, in der nicht ein Geschäft seine Schließung ankündigt. Allerdings: Nicht jedes der leerstehenden Objekte ist im Besitz der Stadt, im Gegenteil. Auch das Bleistifthaus ist nicht Eigentum von Hildesheim. 2017 verkaufte das Land Niedersachsen die Immobilie. Dem vorrangegangen war ein jahrelanger Leerstand, nachdem die HAWK das Haus mit der Bleistift-Skulptur, die in einer Ecke zu stecken scheint, verließ. Mittlerweile hat die Hochschule ihre Arbeitsstätten und Studienangebote aber am Weinberg gebündelt. Das Haus, welches zwei Weltkriege überstanden hat, verfiel daraufhin von außen zusehens. Mittlerweile gehört es dem Immobilienunternehmer Peter Seide aus Hannover. Er hat es
für über 850.000 Euro gekauft. Der Betrag war das festgesetzte Mindestgebot. Für wie viel Geld genau das Haus den Besitzer wechselte, ist nicht bekannt, es gab aber, laut Landesrechnungshof, „mehrere“ Interessenten. „Freiräume Hildesheim“ meinen aber trotzdem zu wissen, dass ein „Spottpreis“ bezahlt wurde. Was mit dem Bleistifthaus passiert, steht noch nicht fest. Man sei „in Planungen“, erklärt Seide. Berichte laut denen dort ein Parkhaus mit aufgesetzten Wohnungen entstehen soll, wollte er weder bestätigen noch dementieren. In die Räume der ehemaligen Bahnhofsschule in der Nachbarschaft, welche Seide ebenfalls gehört, sollen aber voraussichtlich Büros ziehen. Das Bleistifthaus vermietete Seide zwischenzeitlich an die Universität Hildesheim. Die nutzte die Räume für ihr diesjähriges Projektsemester. Thema: die 68er („die sind an allem Schuld“, sang schon Kabarettist Rainald Grebe). Das Projektsemester ist mittlerweile beendet.
Die Schlüsselübergabe ist auf den 31. Juli terminiert. Jetzt ist das Bleistifthaus besetzt. „Mit Bewohnern oder Besetzern nehme ich das Gebäude nicht zurück“, betont Seide. „Freiräume Hildesheim“ erklärte , dass die Tür offen gestanden hätte, als die Gruppe eintraf. „Freiräume Hildesheim“, das betonen die Mitglieder – Club Mate trinkend, Missy Magazin lesend, keine Schuhe tragend – immer wieder, ist keine studentische Initiative oder sonst in irgendeiner Weise mit der Uni verbandelt. Mehrere Mitglieder studieren aber dort. Während des Projektsemesters hätten sie das Bleistifthaus kennen und schätzen gelernt. Deswegen fän-
den sie einen eventuellen Abriss „sehr schade“ und „bitten“ („Forderung ist ein sehr hartes Wort“) darum, das Gebäude langfristig als offenen Begegnungsort nutzen zu können. Eine „Zwischennutzung“ bis zum Beginn der Bau- oder Abrissarbeiten, wie „Freiräume Hildesheim“ bei einem Treffen mit Eigentümer Seide am Mittwochmorgen vorschlug, lehnt dieser ab. Er benötige Teile des Hauses als Baubüro und könne dann keine weiteren Nutzer gebrauchen. Die Gruruppe erklärte daraufhin, dass sie „solange wie möglich“ im Gebäude bleiben wolle. Bis Redaktionsschluss machten die Besetzer keine Anstalten, das Haus zu räumen. Weder der
Eigentümer noch die Universität Hildesheim forderten bisher polizeiliche Maßnahmen an. Die Universität bleibt wortkarg. Indem Haus seien „keine Universitätsmitglieder“, heißt es in einer Pressestelle. Eine Frist zur Räumung verstrich ereignislos. Von „Ich denke, es ist notwendig, dass wir die Diskussion um Leerstände und Räume für die freie Kultur führen“, erklärt ser. Auch Thomas Harling vom Projektbüro Hi2025, welches für die Bewerbung zur Kulturhauptstadt
zuständig ist, schaute vorbei. „Mich haben die Konzepte interessiert. Orte für politisch engagierte und kreative Menschen zu suchen, ist schließlich auch unsere Fragestellung“, begründet er die Stippvisite, fügt aber zügig hinzu: „Es ist aber unstrittig, dass die Aktion illegal ist.“ Noch deutlichere Worte findet Ratsherr Mirco Weiß. „Häuser unter fadenscheinigen Grüden zu besetzen, ist eine Straftat und kein politischer Debattenbeitrag. Um Entscheidungen wird hierzulande mit Worten und in Parlamenten gerungen und nicht durch Hausfriedensbruch“, schrieb der CDU-Politiker beim Kurznachrichtendienst Twitter. „Freiräume Hildesheim“ lässt sich davon, trotz emsiger Netzpräsens, nicht beeindrucken. Die Gruppe kündigt an, sich weitere Immobilien „aneignen“ zu wollen (über weitere Besetzungen
oder auch Kaufintiative), sollte die Besetzung im Bleistifthaus enden. Eine klare Linie in den „Freiräumen Hildesheim“ auszumachen war schwierig. Die Ansprechpartner für Außenstehende wechseln stündlich. Vom Gebäude wehen antifaschistische, feministische, prokurdische Zeichen, Solidarität mit der Seenotrettung und die Aufforderung zu hupen, „wenn Deine Miete zu hoch ist“. Dem kommen tatsächlich Autofahrer auf der Kaiserstraße nach. Überhaupt
sei die Unterstützung aus Bevölkerung groß, erklärt die Gruppe. Über Twitter gewährt die Gruppe Einblicke in das Bleistifthaus. Die Beiträge zeigen eine Liste mit „Materialbedarf“ (Aschenbecher, Akkuschrauber,Lichterketten) oder das Programm in „unserem Kino“ (der japanische Trickfilm „Pom Poko“, über Marderhunde, die ihren Wald vor Bauarbeiten retten wollen und „Der junge Karl Marx“). „Im zweiten Stock sind gerade Menschen dabei, an einem Indoorskatepark zu bauen“, heißt es außerdem. Ein bisschen Spaß muss dann doch sein. Denn diese Besetzung ist nicht mehr symbolisch, sondern Ernst.

KOMMENTAR
Die Aktion ist undurchdacht, aber wirkungsvoll – im Guten wie im Schlechten

Schnellschuss mit Treffergefahr

Nein, eine Hausbesetzung ist nicht legal. Aber eine Hausbesetzung kann legitim sein. Die Mieten steigen ungebremst, der Wohnraum ist knapp, die Missgunst in der Bevölkerung wächst, die Innenstädte veröden. Wer sehen möchte, wie gut sich der Markt selbst reguliert, darf gerne durch die Fußgängerzone bummeln.
Deswegen wäre die Aktion im Bleistifthaus in der Sache lobenswert. Allerdings wirkt das Vorgehen der Besetzer und Besetzerinnen wenig durchdacht. Einen Leerstand zu besetzen, für den sich nach langer Zeit ein Käufer gefunden hat, der dort bauliche Maßnahmen plant, geht am Grundgedanken einer Hausbesetzung vorbei. Dass der Besetzer-Gruppe die voraussichtlichen Pläne nicht gefallen, ist kein gesellschaftlicher Missstand. Zumal die Kritik teils von einer städtisch-linken Kurzsichtigkeit zeugt. Denn wer behauptet, Hildesheim bräuche nicht mehr Parkplätze, darf keine Gegenliebe von der Landbevölkerung erwarten, von deren Lebenswelt er offensichtlich keine Vorstellung, geschweige denn Verständnis hat. Auch die Kritik an der Kulturhauptstadt-Bewerbung mag berechtigt sein. Die Idee aber lediglich aus finanzieller Sicht anzugreifen, greift nicht weit genug. Faktoren wie Standort- marketing oder Strukturförderung, die damit einhergehen (sollen), bleiben unerwähnt. Protest ist aber auch kein Parlament. Die Besetzer und Besetzerinnen müssen nicht für alles eine Lösung parat und jede (gesellschaftliche) Baustelle ständig im Blick haben. Die Gruppe weist auf tatsächliche Missstände in dieserStadt hin. Leerstand soweit das Auge reicht bei gleichzeitiger Verdrängung des gesellschaftlichen Lebens. Ein Tag der Niedersachsen macht noch keine Soziokultur. Die Erfahrurung zeigt leider: eher im Gegen-
teil. Allerdings bleibt abzuwarten, welchen Flurschaden die Besetzung angerichtet hat. Ob Eigentümer ihre Räume weiter zu Verfügung stellen, wenn die Befürchtung grassiert , dass in Folge dessen (wenn auch nicht als Folge davon) unerwünschte Nachnutzer bleiben, ist nicht abzuschätzen. Auf diesen guten Willen ist aber sowohl die studentische als auch die freie (Kultur-)Szene angewiesen. Der LiteraturTreff Prosanova sei als Beispiel genannt, genauso wie das Theater-Fest „transeuropa“. Der Stein, den die Besetzer und Besetzerinnen ins Rollen gebracht haben, könnte sich zur Lawine entwickeln, die jene begräbt, für die er Freiräume schaffen sollte. Trotzdem wäre es begrürßenswert, wenn Bewegung in die Kulturlandschaft Hildesheim käme. Eine tektonische Plattenverschiebung dürfte es nicht geben, aber vorhanden ist Potential für ein mittelschweres Beben. Björn Stöckemann

Quelle: 21.07.2018 Kehrwieder am Sonntag

This entry was posted in Aktuelles, Presse. Bookmark the permalink.