Kehrwieder am Sonntag: „Unser Anliegen ist nach wie vor ein offener Raum“

HILDESHEIM. Die Freiräume Hildesheim sind, laut ihrer Internetseite, ein Zusammenschluss von Studierenden, Kulturschaffenden, Sozialarbeitern und Sozialarbeiterinnen sowie politisch aktiven Menschen aus Hildesheim. Bundesweit auf sich aufmerksam machte die Gruppe im Juli vergangenen Jahres. Aktivisten besetzten das sogenannte Bleistifthaus am Marienfriedhof. Sie forderten, das Gebäude als offenen, selbstverwalteten und unkommerziellen Raum der Allgemeinheit zur Verfügung zu stellen. Das Haus, welches leer stand, nachdem die HAWK als ehemaliger Mieter an den Weinberg gezogen war, gehört einem privaten Investor aus Hannover. Seit die Gruppe das Haus geräumt hat, ist es verhältnismäßig still um die Gruppe geworden. KEHRWIEDER-Volontär Björn Stöckemann hat zwei Vertreter zum Gespräch getroffen. Die Mitglieder der Gruppe bleiben grundsätzlich anonym. Die Namen „Giovanni“ und „Kaya“ dürften Pseudonyme sein. Dass es sich um Mitglieder der Freiräume Hildesheim handelt, kann die Redaktion aber durch die Berichterstattung und Recherche über die Gruppe seit der Besetzung bestätigen.

KEHRWIEDER: Mitte vergangenenJahres wart ihr in aller Munde. Seit ihr das Bleistifthaus verlassen habt, gab es wenig von den Freiräumen Hildesheim zu hören. Was ist seit dem passiert?

Giovanni: Als erstes, als wir raus waren aus dem Haus, haben wir reflektiert, was wir dort gemacht haben, was gut gelaufen ist, was schlecht gelaufen ist und dann versucht weiter mit den Bürger*innen im Gespräch zu bleiben, unsere Ideen präsent zu halten und dafür zu werben, zum Beispiel beim Pflasterzauber oder dem Parking-Day. Jetzt gerade arbeiten wir an einem größeren Projekt, für das wir auch mit Mitarbeiter*innen der Stadt im Gespräch sind. Da tun sich ganz coole Möglichkeiten auf, zuviel wollen wir dazu
aber noch nicht sagen. Wir hoffen aber, dass es was wird.

Was lief denn gut, was schlecht?

Kaya: Auf der einen Seite war es für alle Leute, die das Gebäude betreten haben, beeindruckend, wie bunt und mit Leben gefüllt dieses Haus auf einmal war. Und, dass es ein Raum war, in dem politische und gesellschaftliche Prozesse erfahrbar waren. Das war anstrengend, aber lehrreich.

Giovanni: Anstrengend, weil sich die Gruppe im Haus stetig verändert hat, immer wieder neue Menschen dazu gekommen sind, wir aber trotzdem immer Konsensentscheidungen treffen wollten ohne Hierarchien zu schaffen. Das kann ein Kraftakt sein.

Würdet Ihr so eine Aktion noch einmal machen?

Kaya: Eine illegale Besetzung oder einen freien Raum gestalten?

Ersteres.

Kaya: Ich sehe das nach wie vor als legitimes Mittel, das uns sehr viel Gehör verschafft hat. Das hat uns die Möglichkeit gegeben, auf die Leerstände in Hildesheim aufmerksam zu machen. Wir sind jetzt in Gesprächen mit der Stadt. Es geht uns ja nicht um den Spaß, ein Haus zu besetzen und etwas Illegales zu machen, sondern unser Anliegen ist nach wie vor ein offener Raum.

Die Universität Hildesheim, die das Bleistifthauswährend Eurer Besetzung gemietet hatte, muss jetzt allerdings 15.000 Euro Schadenersatz an den Eigentümer zahlen.

Kaya: Wir fragen uns, welche Schäden wir angerichtet haben sollen, dass das Haus nicht abgerissen werden kann. Außerdem sind wir ja nicht in ein cleanes Haus gegangen. Da war vorher ein Projektsemester drin, die Wände waren bemalt.

Gab es eine Absprache mit der Universität Hildesheim, dass Ihr nur bis zum Auslaufen des
Mietvertrags im Gebäude bleibt?

Giovanni: Ja.

Wieso seid Ihr länger geblieben?

Giovanni: Wir wollten dieses Haus halten, solange, wie es geht.

Also seid Ihr keine verlässlichen Gesprächspartner.

Kaya: Kann ich nachvollziehen, wenn das so wirkt. Auf der anderen Seite hätte es unseren Forderungen nicht viel Nachdruck verliehen, wenn wir einfach das Haus verlassen hätten. Giovanni: Das war eine Besetzung. Wenn wir jetzt über einen Raum verhandeln, ist das eine andere Situation.

Der Kreisverband der FDP wirft Euch vor, der Kulturszene und der Wissenschaft in Hildesheim einen „Bärendienst“ erwiesen zu haben.

Giovanni: Wir haben ja nichts mit der Uni am Hut. Es war Zufall, dass die Uni in dem Moment das Haus gemietet hatte. Wenn jetzt jemand der Uni ein Gebäude nicht mehr vermieten wollen würde, wüsste ich nicht warum. Wir hätten überall reingehen können und wären auch in dieses Gebäude reingegangen, so oder so, egal wem es gehört.

Hat es Euch überrascht, überrumpelt oder aus dem Konzept gebracht, dass Ihr nicht geräumt worden seid?

Kaya: Überrascht ja, aber im positiven Sinne. Wir hatten deswegen anfangs kaum etwas vor Ort, dann aber schnell Materialien,um eine Werkstatt oder eine Druckerei einzurichten. Wenn wir wieder einen Raum gestalten dürften, würde das also alles schneller gehen.

Diesen „Freiraum“ tragt Ihr zwar im Namen, ein klares Bild davon habe ich aber nicht.

Kaya: Wir wollen einen Raum, möglichst niedrigschwellig, möglichst diskriminierungsarm, offen für einen möglichst weiten Personenkreis. Deshalb wäre sicher eineStruktur nötig, um zu organisieren, wer diesen Raum wann nutzen kann.

Giovanni: Ich stell‘ mir einen Raum vor, der frei zugänglich ist, der vielleicht eine Infrastruktur bietet, wie eine freie Werkstatt, aber auch freie Flächen, wo Menschen sich verwirklichen können. Natürlich braucht es Organisation. Aber die Nutzung soll nicht an einen Nachweis, eine Leistung oder Kapital gebunden sein.

Das ist der Punkt: Nicht nur muss so ein Raum finanziert werden, sondern auch verwaltet, betreut, kontrolliert, wie auch immer man es nennen möchte. Im Winter muss die Heizung laufen, das Jahr über muss sicher gestellt sein, dass der Raum nicht zweckentfremdet oder besetzt wird. Die Realisierbarkeit der Pläne haben auch Verantwortliche aus der Kultur schon während der Besetzung in Frage gestellt.

Giovanni: Bei der Finanzierbarkeit ist die Frage,ob wir den Raum mieten müssen, oder ihn gestellt kriegen, weil das, was wir machen wollen, gut ist für die Stadt und die Menschen. Ich stelle mir das so vor, als einen Raum, der selbstorganisiert ist, von den Menschen, die da aktiv sind. Es ist eben kein Modell, in dem wir etwas produzieren, was andere dann konsumieren können. Wir wollen, dass die Menschen zusammen diesen Raum am Leben halten, da Nutzen dran haben, aber auch Arbeit reinstecken.
Kaya: So wie es jetzt ja bereits bei uns ist. Es treffen sich jede Woche Leute, die da ihre Zeit reinstecken. Ich glaube auch, was diesen Raum fern erscheinen lässt, ist, dass das Buntstifthaus nicht besonders niedrigschwellig war. Dadurch, dass wir uns da in einem illegalen Bereich bewegt haben, haben sich viele Bürger*innen nicht getraut da hin zu kommen und reinzuschauen. Uns ist es durchaus bewusst, dass es sowas zu finanzieren gilt, aber ich glaube, dass es da auch andere Möglichkeiten gibt, und hoffe, dass es nicht utopisch ist, wie das klingt.

Ihr habt eben gerade davon gesprochen, dass dieses Projekt „gut“ wäre für die Stadt. Diese Einschätzung dürfte jede Initiative für sich beanspruchen.

Giovanni: Es ist ja aber kein Raum „für uns“oder „unser Projekt“. Wir wollen keine professionellen Kulturschaffende sein, die etwas anbieten, sondern Raum und Infrastruktur erkämpfen, wo Leute sich selber ausprobieren und selber machen können.

Besteht aber nicht die Gefahr, dass ein unfairer Wettbewerb in der Soziokultur entsteht? Warum soll ich als Initiative oder Einzelperson noch in ein soziokulturelles Zentrum oder einen Jugendtreff gehen, für den ich Miete oder Raumnutzung zahlen muss,wenn ich einen Freiraum ohne Gegenleistung nutzen kann?

Kaya: Ich glaube, die Nachfrage ist wesentlich, wesentlich höher als das Angebot hier. Ich kenne Menschen, die sich in privaten Wohnzimmern treffen,weil es sonst keine Räume gibt. Ich könnte mir vorstellen, dass, wenn es so ein Angebot gäbe, die Nachfrage noch steigen würde, dadurch, dass sich Menschen ausprobieren können und sich vernetzen.

Stichwort Vernetzung: Während und unmittelbar nach der Besetzung habt Ihr mit der Politik gesprochen und vice versa. Vertreter von SPD, den Grünen und Linken waren im Haus, ihr selbst in der Bürgersprechstunde im Kulturausschuss der Stadt.

Giovanni: Das hat uns gezeigt: Wenn wir ein Haus besetzen und diese Öffentlichkeitswirksamkeit haben, dann spricht man mit uns. Die Politiker*innen haben damals ja gesagt, dass sie unsere Ideen gut finden, aber dass die Besetzung nicht der richtige Weg sei. Aber das ist eben der Weg, mit dem wir Gehör finden.

Die Argumentation des Kulturausschusses war, dass eine Fragestunde keine Diskussionsrunde ist. Aber der Ausschuss hat angeboten, sich andernorts zu treffen. War das für Euch eine Option?

Giovanni: Wir waren mit den Parteien danach nicht mehr im Gespräch. Es ist ja auch eine Farce, uns einladen zu lassen, nachdem wir den Raum, in den wir hätten einladen können, verloren haben. Die Rückmeldungen im Ausschuss selber auf unsere Fragen haben wir auch als negativ wahrgenommen. Für uns war das ein Zeichen, dass nicht soviel Redebedarf besteht.

Seid Ihr denn mit konkreten Fragen in die Ausschusssitzung gegangen?

Giovanni: Als wir das Buntstifthaus besetzt hielten, hatten wir einen Forderungskatalog aufgestellt. Die Parteien, die uns im Haus besucht haben, haben gesagt, dass sie unsere Ideen gut fänden. In den Gesprächen ging es darum, ob und wie diese realisierbar wären.
Wieso ist der Kontakt mit der Politik dann abgerissen?

Kaya: Wir haben nicht aktiv versucht, uns den Parteien zuzuwenden. Wir wollen sehr gerne Hilfe entgegennehmen, möchten uns aber keiner Partei zuordnen oder vor den Karren spannen lassen.

Giovanni: Uns wurde damals immer geraten, in bestimmte Gremien zugehen und Konzepte vorzulegen. Wir wollen das nicht. Wir wollen uns nicht bewerben oder einen Plan, Expertise oder Professionalität nachweisen müssen. Wir wollen ja keinen Raum für uns, sondern einen Raum für die Bürger*innen, der offen ist und in dem sich Menschen ausprobieren können.

Kaya: Wobei das nicht heißt, dass wir komplett gegen Konzepte sind. Es gibt Konzepte, die genau zeigen, was wir wollen. Wilde Räume, in denen sich etwas entwickelt, weil es sich entwickeln kann. Das hat sich auch im Buntstifthaus gezeigt, dass Menschen auf einmal angefangen haben, Kunst auszustellen oder einen Skate-Park reinzubauen. Der Bedarf ist da.

Gespräche mit der Stadt Hildesheim

Die Stadt Hildesheim bestätigt auf KEHRWIEDER-Nachfrage, dass es ein Gespräch mit den Freiräumen Hildesheim gegeben hat.Vertreter der Gruppe seien an Eckard Homeister von der Wirtschaftsförderung und Frank Auracher vom Projekt Nordstadt. Mehr.Wert herangetreten. Bei dem ersten Gespräch ging es um die Zwischennutzung eines Leerstandes für eine einwöchige Ausstellung, die den Dialog und Austausch unterschiedlicher Positionen fördern solle. Ein Ergebnis hat dasGespräch noch nicht gebracht. „Guter Wille ist von uns da“,erklärt Stadtsprecher Helge Miethe.„Allerdings muss das vernünftig ablaufen“, betonter.„Gerade bei der Vorgeschichte.“

◆ Die Freiräume Hildesheim präsentieren sich im Internet unter www.freiraeumehildesheim.blackblogs.org.
◆ Kontakt zu der Gruppe gibt es über die Mailadresse freiraeumehildesheim@riseup.net.
◆ Im Netz ist der Film „Wem gehört die Stadt?“ über die Besetzung des Bleistifthauses zu finden.

Quelle: www. e-pages.dk/kehrwieder/176/

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